5. Tag, Freitag, 9. Juli
Rano Kau, Höhlen, Orongo

Um von Hanga Roa zum Vulkan zu gelangen, umkreiste unser Busfahrer den Flughafen am westlichen Ende. Angeblich sollten wir hier an einer Menschenfresserhöhle vorbei kommen, aber davon wollte Claudia nichts wissen. Es gibt Fragen, die zu beantworten den Touristenführern unbequem sind. Wahrscheinlich haben sie die Anweisung, nur die Sonnenseiten des hiesigen Insellebens zu vermitteln. Auch als ich Josef ein anderes Mal nach der Leprastation fragte, versuchte er mir auszuweichen. "Die gibt es nicht mehr, wir haben ein ganz modernes Krankenhaus". Was aus den Leprösen geworden wäre, bohrte ich weiter. Sie wären alle nach Santiago in ein Krankenhaus gekommen, bis auf einen, den Filipo. Filipo ist zwischen 75 und 80 Jahren alt. Wo er lebe und wie, wurde schnellstens wieder vertuscht. Na gut ...

Aus dem Iwanowski:

Schon in den Berichten früher Expeditionen taucht verschiedentlich die Vermutung auf, dass es auf der Insel Höhlen geben müsse. Die Berichterstatter bemerkten, dass entweder nur Männer zu sehen oder die Frauen aber nach unerfreulichen Ereignissen (die es ja beim Kontakt mit europäischen oder südamerikanischen Schiffen zu Genüge gab) plötzlich wie vom Erdboden verschwunden waren. Und sie vermuteten auch schon, dass die Frauen (und auch die Ausrüstungsgegenstände, die regelmäßig abhanden kamen) in den Höhlen versteckt wurden. Heyerdahl, der während seines langen Aufenthaltes (er blieb fast ein Jahr auf der Insel) das Vertrauen und die Freundschaft vieler Rapa Nui gewinnen konnte, bekam schließlich mehr über die geheimnisvollen Höhlen heraus und konnte auch einige besichtigen. Jede Familie hatte ihre Höhle. Es kannte immer nur ein Familienmitglied den Eingang, und wenn das starb, ohne das Geheimnis weiterzugeben (meistens an den ältesten Sohn, wenn der nicht als würdig erachtet wurde, konnte aber auch ein anderes Familienmitglied das Erbe antreten), ging die Höhle verloren. In den Höhlen wurden die kultischen Gegenstände wie Holz- und Steinfiguren aufbewahrt, aber auch die Skelette der Vorfahren fanden hier manchmal ihre letzte Ruhestätte. Die Figuren, von denen heute nur noch wenige Originale auf der Insel sind, stellten die Schutzgeister der Familie dar und waren sehr wichtig für ihr Wohlergehen. (Dieses Bild ist aus Aku Aku entnommen und zeigt Atan Atan in der Familienhöhle.) Als die Europäer auf die Insel kamen, stellten die Rapa Nui schnell fest, dass sich die Figuren, die handlicher als die Moais waren, gut verkaufen ließen, und begannen, sie für den Verkauf zu schnitzen. Und auch heute noch kann man sie in den Souvenirläden und auf dem Markt kaufen.

Während der Zeit der Missionierung wollten viele alte Leute lieber nach den alten Riten bestattet werden oder zumindest nicht auf dem katholischen Friedhof landen. Wenn sie fühlten, dass sie bald sterben würden, verließen sie oft heimlich das Dorf und stiegen in die Familienhöhle, um dort auf den Tod zu warten. Manchmal holten die Hinterbliebenen die Leiche auch einfach in der Nacht nach dem (vorschriftsmäßigen) katholischen Begräbnis wieder aus dem Grab und brachten sie vom Friedhof in die Familienhöhle. Die Höhlen wurden bewacht von dem Aku Aku der jeweiligen Familie. Bevor man in die Höhle einstieg oder etwas aus ihr entfernte, musste man ihn fragen und ihn gnädig stimmen. Dazu wurde ein Huhn in einem Erdofen gegart und vor dem Einstieg gegessen. Der Aku Aku bekam die Knochen, anscheinend war das Besänftigung genug. Obwohl inzwischen viele der Höhlen verloren gegangen sind, gibt es immer noch Familien, die eine Höhle haben. Ob es hier noch Statuen und Schrifttafeln gibt, weiß man nicht, aber einige Forscher träumen natürlich immer noch davon, die eine Tafel zu finden, die den Schlüssel zur Rongo Rongo-Schrift birgt. Und auch die Aku Akus sind noch aktiv: die Einheimischen können von merkwürdigen Unfällen erzählen, die passierten, nachdem Fremde unberechtigterweise in die Höhlen eingedrungen und z.B. die Knochen der Ahnen durcheinander geworfen hatten.


Claudia zeigte uns vom Bus aus voller Stolz ein biologisches Versuchszentrum. Hier wird die Flora der Insel gezeigt und auch der Toromirobaum = Schnurbaum nachgezüchtet. Früher war dieser Baum auf der Insel weit verbreitet, da sein Holz nicht nur für Schnitzarbeiten verwendet wurde, sondern auch als Brennholz diente. Thor Heyerdahl hatte Samen mit nach Europa gebracht, wo die Bäume in botanischen Gärten nachgezüchtet wurden, unter anderen in Bonn. Diese Bäume weitflächig auf der Insel wieder anzusiedeln hat bis jetzt noch nicht geklappt.

Aus dem Internet:

Die erste schriftliche Erwähnung des Toromiro verdanken wir Georg Forster, der die Pflanze als Teilnehmer der zweiten Südseereise von James Cook (1772 bis 1775) auf der Osterinsel entdeckte: Obwohl wir einige Male gerastet hatten, konnten wir schließlich den Gipfel des Hügels erreichen, von dem wir die westliche See und das ankernde Schiff sahen. Der Hügel war mit buschiger Mimosa [Forster hielt den Toromiro für eine Mimose] bedeckt, die hier zu einer Höhe von acht oder neun Fuß wuchs, und einige der Stämme hatten etwa die Dicke eines männlichen Oberarmes.

Der Rand des Vulkans war von außen schnell erstiegen, es führte ein relativ breiter Pfad hinauf. Warum? Claudia erzählte uns, dass dieser Vulkan das beliebteste Ziel von Familienausflügen sei. Da geht man sonntags nach der Kirche picknicken. Kinder, Eltern, Großeltern, Katze, Hund, alles ist dabei. Es gibt richtige Familienstammplätze, denn man trifft sich hier zu Sport, Schwimmen, Genießen, Klatsch und Tratsch. Die Kinder sausen im Kraterinneren hinunter zum See. Der Durchmesser des Kraters beträgt 800 m, und er ist lebhaft bewachsen. Im See, in 80 m Tiefe, liegen und stehen Totora Binsen, (Schilf vom Titikakasee; sie werden zum Schiffbau verwendet), er wirkt von oben her richtig damit zugedeckt. Hinter den Büscheln können sich die Kinder gut verstecken. Sie balancieren auch gern auf den liegenden. Fallen sie ins Wasser, ist das nicht schlimm. Die Kinder lernen sehr früh schwimmen. In diesem warmen Klima erkälten sie sich nicht. Jetzt, in der Winterzeit, ist es zu kalt und windig für einen längeren Aufenthalt. Wein wächst hier, Kaffee, Farne, Orangen, Bananen. Aus Claudia strahlte lebhafte Erinnerung. Ein Stück des Kraterrandes zum Meer hin scheint von einem Riesen abgebissen worden zu sein. Hier hat man freien Ausblick zum Pazifik.

Unten am Kraterrand liegt das Zeremoniendorf Orongo. Hier lebte der Vogelmann, der oberste Priester der Insel. Die Sportlichsten jeden Stammes nahmen an Wettkämpfen teil, um evtl. selbst für ein Jahr Vogelmann zu werden oder aber stellvertretend für seinen Häuptling. Der letzte und schwierigste Wettkampf war, ein Ei der schwarzen Seeschwalbe von der Vogelinsel Motu Kao Kao, der entferntesten der drei auf dem Bild, herbei zu holen. Dazu mussten die jungen Männer die Steilküste hinunterklettern, durch die Brandung zur Vogelinsel schwimmen und dort in den Felsen herumklettern, bis sie ein Ei gefunden hatten, um dieses schwimmend und kletternd heil wieder zurück zu bringen. Wer zuerst zurück war, wurde für ein Jahr Vogelmann. Er durfte das Haus inmitten eines Dorfes von 53 Häusern mit sieben der hübschesten Jungfern bewohnen. Daraus konnte nur lebenstauglicher Nachwuchs entstehen. Der Eingang des Vogelmannhauses ist mit Reliefs geschmückt. Sie stellen den obersten Gott Make Make dar, den Vogelmann und einige merkwürdige doppelte Ovale, vermutlich Vulven und Samen.

Die Häuser sind fast rund gebaut, die Mauern (Schiefergestein?), auch die Dächer sind mit Steinplatten abgedeckt und mit Gras bewachsen. Der Eingang ist wieder so niedrig, dass hinein gekrochen werden muß.

Gott Make Make ist gekennezeichnet mit ovalen hervorstehenden Augen. Nicht umsonst der Name der Insel "Matakiterani" = Augen betrachten den Himmel.

Ich scanne aus Iwanowski: Die Petroglyphen

Besonders im Zeremoniendorf Orongo findet man eine Fülle wunderschön gearbeiteter Felsreliefs. Vor allem der Vogelmann wurde hier dargestellt, aber auch andere Figuren sowie Teile von menschlichen Körpern (Gesichter, Hände und Füße sowie weibliche Geschlechtsteile, wahrscheinlich liegt dem ein Fruchtbarkeitskult zu Grunde). Auch Meerestiere, wie Fische und Schildkröten, spielen eine wichtige Rolle, sowohl im Lebensumfeld der Menschen als auch in der Mythologie. Auch an anderen Stellen der Insel finden sich Felszeichnungen (insgesamt sollen es etwa 6.000 sein), aber in der Regel sind sie einfacher als die in Orongo. Während die Darstellungen im Zeremoniendorf als Reliefs herausgearbeitet sind, findet man sonst meist nur einfache Ritzungen.

Der Vogelmannskult wurde römisch-katholisch wegmissioniert; die Rapa Nuis dachten über Ersatz nach - und siehe da, jährlich im Februar findet auf allen attraktiven Plätzen der Insel das Tapati-Festival statt. Ich scanne aus "Terra X": Am Sonntagnachmittag fahren die beiden Brüder Matunga und Terai, die eben noch in frommer Eintracht die Messe besucht hatten, mit ein paar Dutzend Burschen hinaus zum Vulkan Maunga Pui; dort verschwinden sie hinter den Bäumen und kehren nach einer Weile völlig verwandelt zurück: Sie sind, wie einmal die Ureinwohner, nur noch mit Lendenschürzen bekleidet und haben ihre Gesichter mit Kalk und Ruß beschmiert. Matunga trägt den Zeremonialstab eines Schamanen; und während ein paar von ihnen den Erdofen für den "Curanto" ausheben, tötet Terai ein Huhn, indem er ihm den Hals langzieht; er rupft es und wirft die weißen Federn in den Wind. Schließlich steigen alle den Vulkan hinauf, dessen Kuppe den Blick über die ganze Osterinsel freigibt. Während die einen ihre Körper nach dem Vorbild der "Vogelmenschen" tätowieren und mit bunten Ornamenten bemalen, bereiten andere die "Schlitten" aus Bananenstämmen vor, mit denen sie später den steilen Hang des Maunga Pui hinunter donnern. Das Wettrennen "Haka Pei" ist Teil einer alten Tradition, und die Burschen betreiben es noch heute mit soviel Einsatz, als ginge es um Leben und Tod. Bei der Talfahrt erreichen ihre "Bananenschlitten" ein aberwitziges Tempo, und die Lendengeschürzten riskieren Kopf und Kragen und andere wertvolle Körperteile. Der Gouverneur hat den "Haka Pei" nach mehreren Unfällen verboten; doch die wilden Kerle kümmern sich nicht darum - sie rasen auf eigene Gefahr den Vulkan hinunter. Dabei reißt sich einer an einem Hindernis den Oberschenkel auf, und ein anderer überfährt einen Hund.

Nach dem Rennen ruft der Schamane Matunga den Sieger zu sich und bietet ihm den ersten Bissen des "Curanto" an - die blutige Hühnerbrust aus dem Erdofen. Am Ende nehmen sie alle nach polynesischer Sitte um einen "Blättertisch" Platz, den ihnen die Inselfrauen auf dem Grasboden gedeckt haben.

Das "Tapati" endet an diesem Tag mit der Fahrt der Schilfboote übers Meer. Dabei ahmen die beiden konkurrierenden Sippen mit ihrem Gefolge die legendäre Ankunft des ersten Königs Hotu Matua nach, der einst in Begleitung des adeligen Tuu-Ko-Ihu auf der Flucht vor Feinden mit zwei großen Booten auf der Insel gelandet war. Der farbenprächtige Korso ist Teil des Wettkampfs. Die wetteifernden Sippen haben in tagelanger Arbeit zwei Fischerkähne mit Schilf geschmückt und kleine Binsenboote geflochten, in denen nun ihre tätowierten "Krieger" um den Siegeslorbeer rudern. Die beiden Kandidatinnen verkörpern die legendäre Vakal, die ihren Gemahl Hotu Matua auf seinem Exodus begleitet und ihm nach Ankunft auf der Osterinsel eine Tochter geboren hatte.

An der Küste ist das ganze Inselvolk versammelt; die Leute feuern die Wettkämpfer mit lautem Geschrei an. Zu Schluss tragen die tätowierten Männer ihre Prinzessinnen an Land, wo das Fest weitergeht.


Zum Abschluss des heutigen Tages besuchten wir noch die Zeremonienstätte Tahai nahe dem Friedhof Hanga Roas. Ich konnte es nicht lassen, heimlich das Foto wenigstens einer Grabstätte zu schießen. Es gab viele Trauernde, die sich, auf Bänkchen vor ihrem Grab, mit ihren Verstorbenen unterhielten und von deren Mana, der übersinnlichen Kraft, etwas abhaben wollten. Kreuz, Pax, Vogelkopf und Schildkrötenleib = übergestülpter Glaube. Drumherum künstliche Blumen, Muscheln aus dem Ozean und sonstige liebevollen Beigaben. Die Gräber waren sich ähnlich.

Eine weitere Zeremonienstätte ist

Tahai


Sie besteht aus drei verschiedenen Ahus. Der größte ist Ahu Vai Uri mit seinen fünf verwitterten Moais. Die Kante der Plattform geht an der Küste drei Meter in die Tiefe. Daneben ist eine kleine Hafenanlage mit einer gepflasterten Rampe. Nördlich davon steht der kleine Ahu Tahai mit nur einem Moai darauf. Er dürfte der älteste Ahu sein. Der dritte Ahu, ebenfalls mit nur einem Moai darauf, dürfte der jüngste sein. Die Gesichtszüge und Finger sind längst nicht so fein ausgeprägt wie bei den alten. Zu dieser Anlage sind Spuren eines ehemaligen Dorfes zu finden.

Die Augen der Moais wurden immer erst an Ort und Stelle ausgemeißelt. Und wenn ihnen nachträglich weiße ovale Korallen und schwarzer runder Obsidian eingesetzt wurden, dann sahen sie erschreckend gefährlich aus.

Hier werden wir am Sonntag die Sonnenfinsternis in vollen Zügen genießen.

Etwas über Kannibalismus:

Entnommen dem Buch von Stephanie Pauly, die ihr Leben in Deutschland abgebrochen hat und nun seit einigen Jahren mit ihrer großen Liebe, dem Rapa Nui Karlo Huke Atan, hier auf der Insel zusammenlebt. Karlo erzählte eine Legende. Sie endete so:

In seinem Haus in Hotu Iti angekommen, öffnete Kainga das umu kai, legte die Leichen von Rokeaua und Makita hinein, entzündete das Feuer und garte die Körper. Und so hatte nicht nur er, sondern alle dreißig Männer, die Besatzung seines vaka, ausreichend zu essen", beendet Karlo seine Erzählung.

"Würdest du auch Menschenfleisch essen?", frage ich erschrocken. "Selbstverständlich, warum denn nicht!" ist seine knappe Antwort.

Ich schlucke und schlucke nochmals. Mit dieser Frage habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht auseinander gesetzt, allerdings war das auch nicht nötig gewesen.

"Überleg doch einmal. Auf dieser kleinen isolierten Insel war das Überleben sehr schwierig, die Nahrung war immer knapp. Soll man einen Gefangenen zur Strafe auch noch mit Essen beschenken? Die beiden Männer Makita und Rokeaua wussten, dass sie ihren Fehler mit dem Tod bezahlen würden. Es war nur eine Frage der Zeit. Die einzige Strafe, die es bei uns früher für ein schweres Vergehen gab, war das Töten und anschließende Verspeisen. Das wusste jeder. Also hatte auch jeder die Möglichkeit, zu überlegen und frei zu entscheiden, wie er handeln will. Das war die damalige Erziehung in dieser meiner Kultur. Findest du euer Strafsystem menschlicher, wo Verbrecher ein Leben lang hinter Gittern eingesperrt werden, nur noch einige Stunden am Tag die Sonne sehen dürfen und ihnen keine Möglichkeit mehr gelassen wird, ihre Sexualität zu leben?"

Darauf antworte ich nicht. Ich bin gegen die Todesstrafe, ich will nicht über das "menschlicher" diskutieren. Ich bin schockiert über das Verspeisen von Menschenfleisch.

Ja, alle Maori waren Kannibalen. Ich treffe eine ältere Frau von Huahine, einer Insel in der Nähe Tahitis, die mir Folgendes erzählt: "Als ich klein war, erklärte mir mein Vater, wie die Menschen gegart wurden. Man errichtete ein großes umu kai, und der getötete Gefangene wurde in Hockposition hineingesetzt. Nur der Kopf blieb draußen, unbedeckt. Das Feuer wurde entzündet, und wenn der gut sichtbare Schädel platzte, wussten alle, das Essen ist fertig, und der Erdofen konnte geöffnet werden.