Reise zur Sonnenfinsternis in Indien (1995)

Von Klaus und Sigrid Meissen

Am 13. Oktober startete unser Flug in Frankfurt am Main zur totalen Sonnenfinsternis, die am 24. des gleichen Monats im nördlichen Teil Indiens stattfinden sollte.

Unsere Gruppe setzte sich aus sieben Personen zusammen, einschließlich unseres Reiseleiters Eckehard Schmidt aus Nürnberg, der die Reise zu unserer vollsten Zufriedenheit organisiert hatte. Auf diesem Wege danken wir Herrn Schmidt sehr herzlich für seinen tatkräftigen Einsatz, der wesentlich mit dazu beitrug, dass die Reise für uns zu einem unvergesslichen Erlebnis wurde.

Nach einer Zwischenlandung in Dubai am Arabischen Golf flogen wir weiter nach Neudelhi, der Hauptstadt des asiatischen Subkontinentes.

Wir trafen am nächsten Morgen ziemlich müde in dem an der Peripherie von Neudelhi gelegenen Hotel ein.

Das weitläufige Areal mit seinen Gästehäusern erschien mir wie ein Märchen „Aus tausend und einer Nacht". In der Dunkelheit wurden die dem Maharaja-Stil nachempfundenen Gebäude, die mit Türmchen, Balkonen und den landestypischen filigranen Geländern verziert waren, von leuchtenden Laternen warm beschienen. Ich fühlte mich verzaubert und in einer anderen Welt versetzt. Nüchterner wirkte dagegen die Auskunft unseres GPS, dass der verwunschene Ort 6.177 km von unserem Heimatdorf entfernt liegt.

Nach einer mittäglichen Ruhepause besichtigten wir die Altstadt von Neudelhi. Unser erster Halt galt der Verbrennungsstätte Mahatma Gandhis, dem großen indischen Visionär, dessen Ideen die Menschheit bereichert haben.

Dann schlenderten wir an zahlreichen offenen Verkaufsständen der Händler vorbei, die vielerlei Waren feilboten. Unbekannte Gerüche wehten uns um die Nasen und verfehlten nicht ihre exotische Wirkung.

Bei dem anschließenden Besuch der Freitagsmoschee mußten wir uns unserer Schuhe entledigen. Danach besichtigten wir das Rote Fort mit seinen massiven roten Sandsteinmauern. Es diente in der Vergangenheit als militärische Festung sowie auch als repräsentative Residenz.

Am folgenden Tag lernten wir das Jantar Mantar kennen, ein historisches Observatorium, das im achtzehnten Jahrhundert Sawai Jai Singh errichten ließ. Die aus Stein erstellten Instrumente für die Vermessung des Himmels leuchteten in ihrem ockerfarbenen Anstrich. Bedauerlicherweise war unsere indische Reiseleiterin in der Astronomie nicht bewandert, so daß eine fundierte Erläuterung der einzelnen Geräte unterblieb. An dieser Stelle sei auf zwei Publikationen in „Sterne und Weltraum" (Ausgaben 12/1991 und 4/1992) hingewiesen, die sich mit diesem Thema näher beschäftigen.

Nachfolgend fuhren wir zum Regierungssitz. Das Stadtviertel mit seinen imposanten Gebäuden im klassizistischem Stil errichteten die Briten Anfang unseres Jahrhunderts. Zahlreiche breite Straßen werden von weitläufigen Parks flankiert, die für ein angenehmes Klima sorgen.

Anschließend suchten wir das Grabmal des Humayun auf, einem der schönsten Bauwerke Neudelhis im Mogulstil, dem architektonischen Vorläufer des Taj Mahal in Agra.

Der nächste Tag stand im Zeichen unserer Weiterfahrt nach Agra. Damit wir einen ersten Eindruck vom täglichen Leben in einer ländlichen Ortschaft erhielten, legte unsere Gruppe eine kurze Rast in dem Haus des Bruders unseres Busfahrers ein. Unsere aufmerksamen Gastgeber sorgten für kühle Getränke. Schnell wurden Hocker herbeigeschafft, auf die wir uns niederließen. Wir waren die Attraktion der herbei geeilten Dorfbewohner, die einen Halbkreis um uns gebildet hatten.

Schon bald ging es weiter. Auf der schmalen Fernstraße herrschte reger Verkehr und die Teerdecke wies viele Unebenheiten auf. Bevor wir nach mehrstündiger Fahrt in Agra eintrafen, besuchten wir Sikandara. Hier liegt die letzte Ruhestätte des Mogulherrschers Akbar. Das Mausoleum zählt zu den zahlreichen baulichen Kleinodien der islamischen Baukunst Indiens.

Die Stadt Agra wirkte auf mich trostlos. Die Straßen waren überfüllt mit Lkws, Bussen und Krädern. Die Wohnhäuser und die staubigen Wege zeugten von der materiellen Armut breiter Bevölkerungsschichten. Zwischen all dem Elend trabten die heiligen Kühe, die bis auf die Knochen abgemagert waren. Sie ernährten sich überwiegend von Abfall, denn auf den zumeist sandigen Straßen wuchs, wenn überhaupt, nur spärlich ein wenig Grün für die hier lebenden Wiederkäuer.

Ganz im Gegensatz zum tristen Stadtbild präsentierte sich das weltberühmte Taj Mahal als einzigartiges Juwel der menschlichen Baukunst. Unvergeßlich der weiß schimmernde Marmor des hohen Kuppelgebäudes, in dem sich die Sarkophage des Bauherrn Shahjahan und seiner Lieblingsfrau Mumtaz Mahal befinden. Ein wahrhaft Wirklichkeit gewordener Traum, der sich in den sanften Wellen des vorbeifließenden Yamuna-Flusses spiegelt.

In der Folge suchten wir die gewaltige Festung von Agra auf, erbaut aus rotem Sandstein und einst Machtzentrum des Mogulreiches.

Der sechste Reisetag führte uns nach Jaipur. Bevor wir dort eintrafen, machten wir einen Zwischenstopp im "Ghana Bird Park". Mit Fahrradrikschas durchquerten wir das beeindruckende Naturschutzgebiet, in dem viele Vogelarten ihre Heimat gefunden haben.

Nach dem wir am nächsten Morgen Fort Amber mit dem dazugehörigen Palast besichtigt hatten, ritten wir auf dem Rücken eines friedvollen Elefanten zurück zum Bus, der am Eingang auf uns wartete.

Anschließend wandten wir uns der Astronomie zu. Wir nahmen an einer Vorstellung des Planetariums in Jaipur teil. Dort wurden die verschiedenen Sternbilder und sonstige Himmelsphänomene in der Landessprache Hindi erklärt. Es fiel uns auf, dass es für manchen astronomischen Fachausdruck kein gleichwertiges Wort in der gebräuchlichen Landessprache zu geben schien, so dass man sich des Englischen bedienen musste. Kurios wirkte der Einlass von verspäteten Besuchern während der Vorstellung. Absoluter Höhepunkt der Störung bildete der Lichtkegel einer Taschenlampe, der statt den Zuspätkommenden den Weg zum Sessel zu weisen, die dunkle Kuppel mit den darauf projizierten Sternbildern aufhellte.

Nachfolgend nahmen wir die anschaulichen Exponate im benachbart liegenden Science-Museum in Augenschein. Daran schloss sich die Besichtigung der berühmten alten Sternwarte in Jaipur an. Zu unserem abermaligen Leidwesen verließ uns der hiesige Reiseleiters vorzeitig, denn auch er war in der Astronomie nicht beheimatet. Somit musste wieder einmal die eigene Phantasie die hier aufgestellten Beobachtungsinstrumente und deren Benutzung erklären.

Am neunten Reisetag brachen wir nach Dundlod auf, dem Ort unserer Finsternisbeobachtung. Er liegt in der semiariden (halbwüsten) Region Rajasthans nordnordwestlich von Jaipur, 2,4 Kilometer von der Zentrallinie entfernt.

Wir wurden freundlich vom Duke von Dundlod in seinem Castle empfangen. Nach einem erfrischenden Getränk bat der Hausherr uns an den Tisch, wo wir eine warme Mahlzeit einnahmen.

Nachmittags schlenderten wir durch das Dorf Nawalgarh und besichtigten die dekorativen Havelis: stattliche Wohnhäuser aus dem vergangenen Jahrhundert, deren Mittelpunkt ein lichtdurchflutetes nach oben hin offenes Atrium bildet. Die Wände der Innenhöfe sind farbenprächtig mit floralen und figürlichen Motiven bemalt.

Danach suchten wir die ausschließlich für Sonnenfinsternisbeobachter errichtete Zeltstadt auf, die zirka 1,3 Kilometer von Dundlod entfernt lag. Die luftigen Häuser aus Tuch wiesen die Höhe einer stattlich gewachsenen Person auf und waren in drei Kammern unterteilt.

Zuerst betraten wir einen Vorraum, an den sich das eigentliche Schlafzelt mit zwei Feldbetten anschloss. Schließlich folgte der Abschnitt mit den sanitären Anlagen. Sämtliche Böden waren mit einem strapazierfähigen Teppich ausgelegt. Im hintersten Teil stand auf einer Holzpalette eine provisorisch aufgestellte Toilettenschüssel, deren schwarze Kunststoffbrille samt Deckel von feinem Sand überzogen war. Als Abfluss reichte ein Rohr waagerecht hinaus bis hinter das Zelt, wo es seine Fracht in eine ausgehobene Grube im Sand abfließen lassen konnte. Ebenfalls auf der Palette stakte eine mannshohe Duschanlage in handlicher Leichtbauweise. Die Wasserversorgung sollte ein voluminöse Vorratsbehälter auf einem erhöhten Dach übernehmen. Leider kamen wir nur selten in den Genuss von fließendem Wasser, denn man kämpfte mit wenig Erfolg gegen die zahlreichen Lecks. Statt dessen erhielten wir einen zehn Liter fassenden Eimer mit Wasser gefüllt, um uns zu erfrischen. Eine abenteuerlich installierte Stromleitung mit Schalter und Glühbirnen sollte abends für ausreichende Helligkeit sorgen. Allerdings fehlten zuerst zwei der lichtspendenden Glaskörper. Nachdem Klaus sie beschafft hatte, stellte sich heraus, dass die Hauptleitung nicht richtig angeschlossen war. Schnell reparierte er die unter Spannung stehende Anlage, so dass wir schließlich doch in den Genuss erleuchteter Zelträume kamen.

Der nächste Tag stand im Zeichen des näheren Kennenlernens der Region Shekhavati, wo wir abermals einige Ortschaften aufsuchten. Dort kamen wir in Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung, die keine Scheu gegenüber Ausländern zeigte und sehr freundlich und aufgeschlossen wirkte.

Am Abend hatten wir die Möglichkeit, unseren Standort für die Finsternis aufzusuchen. Bevor wir nach Dundlod aufbrachen, bewunderte ich den dunklen Himmel, der sich über unsere Köpfe spannte. Fast plastisch das Band der Milchstraße, das sich von Nordost nach Südwest erstreckte. Im Zenit breitete der Schwan seine Schwingen über uns aus. Jupiter stand mit 22° und Venus mit 3° über den Westhorizont.

Nach einer kurzen Busfahrt erreichten wir den angestrebten Ort und betraten ein vor etwa hundert Jahren errichtetes Haus im landestypischen Baustil. Ein ausgezehrt wirkender Greis führte uns mit einer matt leuchtenden Petroleumlampe durch das verwinkelte Treppenhaus hinauf zur weitausladenden Terrasse. Hier erhoben sich vier Türme, die jeweils in alle vier Himmelsrichtungen wiesen. Sogleich wurden sie als geeigneter Beobachtungsplatz in Beschlag genommen, um darauf die mitgeführten Geräte für das große Ereignis zu postieren und nach Norden auszurichten.

Der nachfolgende Tag stand zur freien Verfügung. Einige von uns nutzten den Vormittag zu einem ausgiebigen Kamelritt durch die Halbwüste Rajasthans. Höhepunkt bildete der Aufenthalt in einem Dorf, wo wir in einem der Häuser sehr gastfreundlich verköstigt wurden.

Nachmittags saßen wir im Schatten der Zelte. Bei Temperaturen von über 30 Grad heizten sie sich tagsüber im Inneren stark auf. Im Gegensatz dazu fiel in der Nacht die Temperatur auf 12 Grad Celsius, so dass wir unter den leichten Bettdecken froren.

Am Abend fand auf dem Platz vor der Zeltstadt ein folkloristischer Abend statt. Ihren Höhepunkt fand die musikalisch untermalte Vorstellung mit einem obligatorischen Fakir, der auch als feuerschluckender Magier die Zuschauer in seinen Bann zu ziehen wusste.

Danach hieß es früh schlafen gehen, denn der nächste Tag begann bereits um 4:45 Uhr. Ziemlich müde und verfroren kroch ich am Morgen aus meinem Bett. Verschlafen zog ich mich an, während die anderen schon ihren Morgenkaffee zu sich nahmen. Als ich vor das Zelt trat war ich vom Anblick des Nachthimmels fasziniert. Die prachtvolle Gestalt des Orion stand hoch im Südwesten. Im Nordosten erblickte ich den großen Wagen, der vor dem Schwarz des Firmaments zu schweben schien. Die Deichsel wies fast senkrecht zur Erde. Der einprägsame Anblick des über uns gebogenen schwärzlichen Himmels wurde durch das Erspähen vereinzelt fallender Meteore abgerundet.

Der Bus brachte uns zu dem bereits gestern aufgesuchten Wohngebäude in Dundlod. Als wir dort ankamen, fanden wir die Pforte in dem großen Eingangstor an der Straße unverschlossen. Im Vorhof schlichen wir an die noch schlafenden Hausbewohner vorbei. So gelangten wir auf die Terrasse des Hauses, die nach meiner Beobachtung die höchstgelegene des Städtchens war. Wir befanden uns bei Position 27° 54' 4" Nord und 75° 13' 4" Ost, zweieinhalb Kilometer von der Zentrallinie entfernt. Die Höhe betrug 320 m über NN.

Zu dieser Zeit war es noch finster und entsprechend kalt. Der von vielen Lampen erleuchtete Ort lag unter uns, so dass wir einen herrlichen Ausblick von hier oben genießen konnten. Zur frühen Stunde erscholl aus einigen Lautsprechern lärmende Musik zu uns herüber. Irgendwie erinnerte Klaus und mich die hier herrschende Stimmung an das Weihnachtsfest. Apropos Fest: tags zuvor war in Indien das Lichterfest Divali gefeiert worden. Kleine Kerzen auf der Brüstung des Daches zeugten noch davon.

Wir genossen den weiten Ausblick über die jenseits der Stadt liegenden Halbwüste, die aufgelockert mit Bäumen bestanden war. Langsam hellte sich der Horizont im Osten auf. Gegen 6:37:20 Ortszeit lugte der nördliche Teil des Sonnenrandes hinter einer Hügelkette hervor, die sich von Ost nach Süd erstreckte.

Ein junger Inder gesellte sich zu uns. Er bat um ein Stück Schutzfolie, die er vor seine Brillengläser anbrachte. Im Gespräch bemerkte er, daß sein Großvater das Haus, in dem wir zu Besuch weilten, vor 95 Jahren erbaut hatte.

Da es bis zur Totalität noch eine Weile dauern sollte, beobachtete ich ausgiebig die tief unter mir liegende Umgebung mit ihren Menschen und Tieren.

Auf der Straße stand eine junge Frau, die mit Anmut ihren leuchtend bunten Sari zu tragen wusste und putzte sich ausgiebig die Zähne. Sie winkte mir freundlich zu, als sie mich oben auf dem Haus erblickte. Die gebrauchte Zahnpasta spuckte sie unversehens in den Sand der Straße.

Ich erspähte einige Jungen, die schon ihre Schutzbrillen für das bevorstehende Ereignis vor die Augen legten. Desgleichen eine Schar junger Männer, die das zukünftige Geschehen scheinbar kaum abwarten konnten.

In einigen hundert Meter Entfernung in westlicher Richtung erblickte ich auf einem anderen Hausdach die französischen Expeditionsteilnehmer mit ihren herbeigeschafften Beobachtungsgerätschaften. Japanische Finsternisbegeisterte hatten auf einem anderen Gebäude Stellung bezogen und warteten gespannt auf die sich bald zeigende Verdunkelung.

Auf dem sandigen Hof eines stattlichen Nachbargebäudes zogen träge weiße Kühe dahin und Hunde streunten zwischen ihnen hindurch, bis sie sich geruhsam niederlegten. Mittlerweile fand auch eine der Kühe mit mächtigen Hörnern einen gemütlichen Ruheplatz.

Nachdem ich meine Blickrichtung nach Südosten verlagert hatte, bemerkte ich einen Pfau, der sich auf einem gegenüberliegenden Dach der Gefiederpflege hingab.

Weiter in südlicher Richtung entdeckte ich auf einer Veranda mehrere Inder fortgeschrittenen Alters, die sich in entspannter Haltung unterhielten. Das nahende Himmelsphänomen schien sie nicht sonderlich zu bewegen. Wir warteten weiterhin gespannt auf die 22. Finsternis des Saroszyklus 143 mit der Oppolzer-Nr. 7623.

Die Zeit flog bei den stillen Betrachtungen schnell dahin, und mittlerweile hatte sich der 1. Finsterniskontakt um 7:23 (1:53 UT) ereignet.

Die Erregung unter den Beteiligten nahm spürbar zu. Jetzt wurden die Schutzfolien vermehrt vor die Augen geführt, und natürlich wurden eifrigst die Auslöser der Aufnahmegeräte betätigt.

Noch merkten Unwissende nichts von der zukünftigen Verfinsterung. Die zahlreich vorhandenen Tauben umkreisten in luftiger Höhe unsere Aussichtsplattform und ließen sich anschließend auf die umliegenden Dächer zur Rast nieder.

Langsam aber unaufhörlich schob sich die schwarze Mondscheibe vor unser Zentralgestirn. Das Tageslicht nahm deutlich an Helligkeit ab und die Landschaft wurde nur noch von einem eisgrauen Schein erhellt. Deutlich spürbar ging die Lufttemperatur zurück.

Auf dem Boden hatten wir ein helles Tuch ausgebreitet, um eventuell auftretende fliegende Schatten kurz vor der Totalität ausmachen zu können. Wir haben aber leider keine dieser Erscheinungen beobachten können.

Der ersehnte zweite Kontakt trat um 8:31:58 Ortszeit (3:01:58 UT) bei einer Höhe von 23,5° über dem Horizont ein.

Während der Totalität war die Mondscheibe nur etwa 1 Prozent größer als die Sonnenscheibe und warf auf der Erde einen nur 40 km breiten Kernschatten. Daher ist bei einer so kurzen Finsternis ein Beobachtungsort möglichst nahe an der Zentrallinie wichtig, um von den theoretischen 50 Sekunden genügend viel miterleben zu können.

Begeisterungsrufe schallten zu uns herüber. Jeder betrachtete gebannt die gänzlich abgedunkelte Sonne. Leider blieb in der Kürze der Totalitätsphase nicht viel Zeit zur Betrachtung eines eventuellen Auftretens des Diamantringeffektes oder der deutlich sichtbaren Korona. Gleichzeitig mussten die verschiedenen Auslöser der ausgerichteten Instrumente bedient werden. Wenige Augenblicke verblieben für das Auffinden sichtbar gewordener Planeten oder Sterne. Nur Venus war auffällig am Ostsüdost-Horizont zu sehen.

Die allgemeine Hektik ebbte erst langsam nach dem 3. Kontakt ab, der sich um 8:32:47 Ortszeit (3:02:47 UT) ereignete. Langsam gab der Erdtrabant den gleißenden Feuerball wieder frei.

Die anwesenden Tiere schienen von dem astronomischen Spektakel nicht sonderlich beeindruckt gewesen zu sein. Die Kuh lag immer noch wiederkäuend an derselben Stelle wie zuvor. Der im Sand lungernde Hund zeigte keinen aufgeregten Gemütszustand. Die indische Gesprächsgruppe auf der Veranda war ruhig auf ihrer Bank sitzengeblieben.

Wir waren natürlich von dem Schauspiel tief beeindruckt und fanden uns zusammen, um über das Gesehene miteinander zu reden. Eine gewisse Erleichterung war spürbar nach der Anspannung der vorangegangenen Minuten. Der wieder erstrahlenden Sonne schenkten wir nun nicht mehr die höchste Beachtung, so dass wir vergaßen, die genaue Zeit des 4. Kontaktes festzuhalten.

Nachdem Ruhe eingekehrt war, bauten wir unsere Beobachtungsgeräte wieder ab, um in die Zeltstadt zurückzukehren.

Dort trafen wir auf die ebenfalls hier wohnenden Expeditionsteilnehmer aus Hongkong, die das Ereignis vom Zeltplatz aus verfolgt hatten. Nach der vorhergehenden Aufregung stellte sich der Hunger bei uns ein. Leider fiel das Frühstück nicht nach unseren Vorstellungen aus, denn es war rein auf den indischen Geschmack abgestellt. Die warmen Speisen sind in unserem Gastland sehr stark gewürzt. Das Hirsefladenbrot enthielt feinst gemahlene Sandkörner von dem Abrieb der meist handbetriebenen Mahlsteine.

Am selben Tag ging es per Bus zurück nach Neudelhi, wo wir in einem Hotel nahe am Flughafen Herrn Fritz Egger trafen, der sicherlich den meisten Lesern gut bekannt sein wird. Nach seinen Aussagen hatte er in Benares die Hölle gesehen. Er zeigte sich entsetzt über die materielle Armut und die grauenhaften Existenzbedingungen der dort lebenden Menschen. Zu seinem Bedauern befand sich der Beobachtungsort seiner Gruppe nicht nahe genug an der Zentrallinie. Bei der daraus resultierenden Kürze der Totalität waren nicht alle geplanten Vorhaben zu bewältigen.

Am nächsten Morgen gegen 4:30 Uhr Ortszeit flogen wir in Richtung Westen nach Dubai und trafen um 12:30 MEZ in Frankfurt ein.

Hier begrüßte ich die frische klare Luft eines verregneten Herbstmorgens. Voller Freude betrachtete ich das noch reichlich vorhandene Blattwerk an den Bäumen, welches von den wunderschön leuchtenden Farben der Jahreszeit geprägt war.

Literatur
Meissen, Sigrid: Reise nach Indien zur totalen Sonnenfinsternis – vom 13. bis 25. Oktober 1995, unveröffentlichtes Manuskript, Morsbach-Holpe, Dezember 1996, 26 Seiten. Eine Kurzfassung davon erschien in:
Meissen, Klaus und Sigrid: Reise zur totalen Sonnenfinsternis in Indien am 24.10.1995, in Sonne, Heft 76, Dezember 1995.