Der Sonnenfinsternis verfallen „Ecliptomanie“ oder „in Indien dabeigewesen“ (1995)
Von Lothar Scharf
„Einmal Totalität – und Sie sind süchtig!“ So der Ausspruch eines erfahrenen Finsternisbeobachters während der „Jahrhundert-Finsternis“ 1991 in Mexiko.
Wer einmal die Faszination einer totalen Sonnenfinsternis wirklich erlebt hat, wird das verstehen. Und wenn man dabei auch noch fremde Länder kennenlernt – desto besser.
Die Sonnenfinsternis am 24. Oktober 1995 bot die Gelegenheit zu einer solchen Reise. Planung und Durchführung überließ ich Eckehard Schmidt aus Nürnberg, der schon
zahlreiche Astronomie Studien Reisen erfolgreich durchgeführt hat, so dass ich dem Unternehmen froh und erwartungsvoll entgegenblicken konnte.
Die Omen zum Beginn der Reise standen gut. Die Teilnehmerzahl erreichte den „magischen“ Wert ´7´ (später, während der Finsternis, waren es dann 9), und der Start erfolgte
– am Freitag, den 13.10.1995. Mit der Emirates Airline ging es via Dubai nach Delhi; übrigens eine ausgezeichnete Gesellschaft. Wir wurden u. a. alle 15 Minuten (über
Monitore) über die Position relativ zu Mekka informiert. Diesen Service bietet die Lufthansa nicht.
Die Tage vor der Finsternis nutzten wir, um im bekannten „Goldenen Dreieck“ (Delhi – Agra – Jaipur) die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Dazu gehörte nicht
nur das berühmte Taj Mahal, welches wirklich sehenswert ist, sondern selbstverständlich auch die historischen Sternwarten des Jai Singh II (1686 – 1743), Maharaja von
Jaipur. Die monumentalen Ausmaße dieser aus rotem Sandstein und weißem Marmor gefertigten Geräte in Delhi und Jaipur sind beeindruckend. Einige der riesigen Sonnenuhren
ermöglichen eine Ablesegenauigkeit von wenigen Sekunden.
Als Beobachtungsort in Indien war Dundlod, ein kleiner Ort in der Nähe von Nawalgarh, im Bundesstaat Rajastan (nordwestlich von Jaipur) gewählt worden. Die
Totalitätsdauer sollte hier allerdings nur 53 Sekunden betragen, aber dafür waren die Wetterprognosen für dieses Halbwüstengebiet ausgezeichnet: Bis zum Jahresende sollte
es kaum noch regnen!
Einundzwanzigster Oktober
Am 21. Oktober schaukelte unser Bus uns über indische Land- und Fernstraßen nach Dundlod. Dort waren an einem ehemaligen Karawanenbrunnen im Sand der Halbwüste ca. 40
Zelte errichtet worden: jeweils für zwei Personen und mit Komfortausstattung, Vorraum, Schlafraum und „Nasszelle“, d. h. mit WC und Dusche, sogar eine Steckdose für 220 V
an „fliegenden“ Leitungen hängend, ein Rasierspiegel, und auch das manchmal sehr wichtige und in Indien so knappe Toilettenpapier war vorhanden. Und wie im
Fünf-Sterne-Hotel fand man auch hier in jedem Raum Kerze und Streichhölzer. Dies erscheint nach einer Woche Indienaufenthalt ganz selbstverständlich, hat man doch nach
einem Tag im Lande erkannt, dass die elektrische Energie portionsweise nach einem unerkennbaren, geheimen Plan verteilt wird. Rührend allerdings waren die Bemühungen des
äußerst freundlichen indischen Personals, über einen provisorischen Hochbehälter fließendes Wasser in die Zelte zu zaubern. Das kostbare Nass floss auch ab und zu, sogar
erwärmt (Hochbehälter und Rohre waren schwarz, und die am wolkenlosen Himmel strahlende Sonne tat ihr Bestes), aber der zusätzlich gefüllte Eimer und die Schöpfkelle
boten doch eine gewisse Sicherheit. In summa: Die Umstände erhöhten den Abenteuer-Charakter unseres Aufenthalts.
Zweiundzwanzigster Oktober
In der Nacht vom 22. zum 23. suchten wir erstmals unseren Beobachtungsplatz auf der Dachterrasse eines Havelis auf. Was ist ein Haveli? Nun, als die Region vor etwa
hundert Jahren noch im Schnittpunkt bedeutender Handelsrouten lag, errichteten die (damals) reichen Familien festungsartige Wohngebäude mit quadratischem bis rechteckigem
Grundriss und einem Innenhof mit meist kostbar dekorierten Innenfassaden. Diese Haveli, heute leider nicht immer gepflegt und z. T. verlassen, sind ein Kennzeichen dieser
Region. Auf eben solch einem Gebäude standen wir nun in dieser Nacht, fasziniert vom klaren Sternhimmel und der ungewohnten Stellung unserer heimischen Sternbilder.
Dreiundzwanzigster Oktober
Am Morgen des 23. stiegen wir nochmals auf das Dach des Hauses, um den Sonnenaufgang zu erleben, zu fotografieren, uns auf den kommenden Tag „einzustimmen“ – und die
Positionierung unserer Stative zu überprüfen. Im Laufe des Tages fanden sich in dem abgeschiedenen und verschlafenen Ort dann noch etwa hundert ausländische Beobachter
ein: Japaner, Hongkong-Chinesen, Franzosen und – wir sieben Deutschen plus zwei Dänen, die sich uns hier anschlossen.
Vierundzwanzigster Oktober
Dann ist es soweit: wecken um halb fünf. Ein heißer Tee bzw. Kaffee stärkt nach der 8° C kalten Zeltnacht die Lebensgeister. Kameras, Filter, Filme, Objektive – alles o.k.?
Fünf Uhr: ab in den Bus und kurze Fahrt zu „unserem“ Haveli. Mit Taschenlampen über dunkle und steile Treppen aufs Dach. Noch ist alles dunkel, Orion und Sirius strahlen
hoch am Himmel. Der Unterschied zu Norddeutschland (54° nördlicher Breite) und unserem Beobachtungsort (27° nördlicher Breite) ist doch beachtlich!
Jeder sucht sich seinen Platz auf der Dachterrasse bzw. auf einem der kleinen Türme. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Der Blick geht nach Osten – die kurze
Dämmerung beginnt – der Morgen kündigt sich an, und von der Moschee, es ist gegen sechs Uhr, ertönt der Ruf und der Gesang des Muezzin. Das Dorf erwacht mit all seinen
eigenen Lauten und Geräuschen. Hier wird nicht viel gesprochen, jeder gibt sich seinen eigenen Gedanken und Empfindungen hin. Kurz nach halb sieben ein wunderbarer
Sonnenaufgang. Die Sonne steigt schnell über den Horizont in den klaren, freien Morgenhimmel und bringt damit auch die ersehnte Wärme. Die Zeit läuft.
Noch eine Stunde bis zum Erstkontakt. Kameras werden justiert, an den Filtern gebastelt, Feldstecher präpariert, Erfahrungen und Erwartungen ausgetauscht – die „Neulinge“
werden „eingewiesen“. Dann ist es soweit – kurz nach 7.20: Erstkontakt!
Der Mond schiebt sich vor die Sonne. Nicht das erste Mal und doch so faszinierend! Der Blick wandert immer wieder zu Sonne und Mond. Der Himmel und die Sicht in die
Landschaft sind ideal. Aufnahmen der Landschaft, Fotos der beobachtenden Freunde und immer wieder der Blick zum Himmel lassen die Zeit rasch vergehen. Die Anspannung
verstärkt sich: noch zehn Minuten bis zur Totalität. Die Farben werden schwächer, das Licht wird fahl, grau, bleiern. Die Sonnensichel wird schmaler und schmaler. – Jetzt
nur nichts verpassen! – Ist an der Kamera noch alles in Ordnung? – Noch ein Blick durch den Filter.
Gleich? – Blick nach Westen – „der Mondschatten kommt!“ – In Sekundenschnelle wird es noch dunkler – Filter weg – der Diamantring ist ein Rubinring! Begeisterungsrufe –
Kamera auslösen – schauen, aufnehmen... Wie lange noch? –
Vorbei. Die ersten Sonnenstrahlen brechen über den Mondrand hervor – Filter vor die Augen.
„Das war's“
Ein Blick zu den Freunden: Freude, Zufriedenheit, Glücklichsein. Die Anspannung der letzten Stunden ist gewichen. Wir nehmen noch die Veränderungen der Landschaft und der
wieder freiwerdenden Sonne wahr, aber jetzt wird auch viel miteinander gesprochen. Jeder verarbeitet „seine“ Finsternis. Auch findet sich eine Flasche Whisky. Diese macht
die Runde und verbessert die gute Stimmung nochmals.
Es ist gegen neun Uhr indischer Standardzeit. Ob uns zu Hause wohl jemand versprochenerweise die Daumen gedrückt hat? Bei viereinhalb Stunden Zeitverschiebung ist es dort
ja erst 4:30 Uhr MESZ.
In Ruhe wird abgebaut, wir klettern froh und zufrieden von „unserem“ Haveli, und der Bus bringt uns nochmals in Zeltlager. Das dort jetzt bereitgestellte Frühstück
schmeckt wunderbar. Danach wird der Koffer gepackt und die Busfahrt ins knapp 300 km entfernte Delhi angetreten. In der Nacht beginnt der Heimflug Delhi – Dubai –
Frankfurt.
Fünfundzwanzigster Oktober
Und bei meiner Heimfahrt von Frankfurt am Abend des 25. ist „er“ schon wieder zu sehen – „unser“ Mond – als feinste Sichel tief im Westen. Keine 48 Stunden sind
vergangen, da habe ich, seit Wochen und Monaten erwartet und vorbereitet, gut 50 Sekunden Totalität erlebt.
- Ich bin glücklich! –
Literatur
Scharf, Lothar: „Ecliptomanie“ oder: „In Indien dabei gewesen“, in Mitteilungen Volkssternwarte Darmstadt, 28 (1996) 2, Seite 23-25.