Der „Schwarze Tropfen“

Die Geschichte der Venusdurchgänge erzählt Reinhart Sitter, Passau

Einleitung

Der Autor, ein passionierter Briefmarkensammler, erzählt die Geschichte von den Venusdurchgängen. Deren Beobachtungen sind wegen ihrer Seltenheit genauso spannend wie die von Sonnenfinsternissen. Der letzte Transit (Durchgang) fand 1882 statt. Also keiner der Leser des ASTROAMATEUR hat je einen Durchgang selbst beobachtet. Deshalb im Kalender ganz dick den 8. Juni 2004 ankreuzen!
Der Durchgang kann auch ohne optische Hilfsmittel beobachtet werden; hier könnte die Sonnenfinsternisbrille von 1999 wieder zum Einsatz kommen. Besser sichtbar ist das Ereignis mit einem Fernglas oder Fernrohr – aber nur unter Verwendung geeigneter Sonnenfilter (z. B. Schutzfolien)!
Wie bei einer Sonnenfinsternis, bei der sich der Mond vor die Sonne schiebt, spricht man auch beim Venusdurchgang von vier Kontaktzeiten (Uhrzeiten am 8.6.2004 in Abhängigkeit vom Beobachtungsort!):

Verlauf des Venustransits am 8.6.2004
(1) Verlauf des Venustransits am
8.6.2004: Die in Klammer angegebenen
Zeiten sind in Sommerzeit. Quelle:
Himmelsjahr 2004, Kosmos-Verlag

1. Kontakt 07:20 Uhr: Die Venusscheibe berührt die Sonnenscheibe.
2. Kontakt 07:40 Uhr: Venusscheibe völlig innerhalb der Sonnenscheibe.
3. Kontakt 13:04 Uhr: Venusscheibe berührt den anderen Sonnenrand.
4. Kontakt 13:23 Uhr: Venusscheibe verlässt die Sonnenscheibe. (1)

Wenn das Wetter mitspielt, ist der Venusdurchgang von Deutschland aus beobachtbar. Sie brauchen also keine der Expeditionen zu unternehmen, wie sie nachfolgend berichtet werden.

Schwarzer Punkt im Sonnenrund

Wenn sich der Mond genau zwischen Erde und Sonne schiebt, erleben wir eine Sonnenfinsternis. Der kleine, aber sehr nahe Mond verdeckt die scheinbar gleich große Sonnenscheibe und der helle Tag wird minutenlang nachtgrau. Auch die Venus kann unseren Blick auf die Sonne kreuzen, denn sie umkreist das Zentralgestirn in einer engeren Umlaufbahn um die Erde. Dann zieht die Venus so zwischen Erde und Sonne vorbei, so dass sie für die Dauer mehrerer Stunden als schwarzer Punkt das Sonnenrund durchquert. Der große Zyklus, der Erde, Venus und Sonne in eine Linie führt, lässt nach über hundertjähriger Pause immer zwei solcher „Venus-Passagen“ kurz hintereinander folgen.
Während das 20. Jahrhundert leer ausging, wird sich das Ereignis im 21. schon bald wiederholen: jeweils im Juni der Jahre 2004 und 2012!

Wissenschaftliche Gemeinschaftsleistung

1768 beginnt die größte aller Sternfahrten; alle Teilnehmer sind Himmelsforscher. Vor ihnen liegen riesige Strecken mit halsbrecherischen Fahrten durch wegloses Gelände. Die Zielorte sind über den ganzen Erdball verteilt. Das Zieldatum steht fest: Am 3. Juni 1769 wollen die Forscher eine astronomische Sensation beobachten: Dann wird die Venus über die Sonnenscheibe wandern.
Die Sternwarten von London und Paris sind 1768 die Kontrollzentren dieses „Unternehmens Venus“. Große Weltkarten zeigen die Zielorte der einzelnen Expeditionen. Es ist die erste wissenschaftliche Gemeinschaftsleistung der europäischen Nationen!
überall verfolgt man das weltumspannende Projekt mit größtem Interesse. Koordinaten auf der Karte zeigen, an welchen Orten auf der Erde die Venuspassage zu sehen sein wird.

Schlüssel für die Lösung

Warum hatte die Passage der Venus für die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts so große Bedeutung? Damals war der Abstand der Erde von der Sonne noch unbekannt. Die Entfernungen im Sonnensystem konnten weder in Meilen noch in irgendeinem anderen Längenmaß angegeben werden. Der Schlüssel für die Lösung lag bei der Venus! Jetzt wollte man eine Venus-Passage von weit über den Globus verteilten Standorten aus beobachten. Die Momente der scheinbaren Berührung der Venus mit dem Sonnenrand sollte jeder Beobachter mit sekundengenauer Uhrzeit notieren. Doch die Messergebnisse würden um Sekunden oder gar Minuten voneinander abweichen – umso mehr, je weiter die Positionen der Zeitmesser auseinander lagen. Aus diesen Differenzen ergab sich die Lösung. Denn aus der zeitlichen Verschiebung ließ sich der Winkel zwischen Sonne und Beobachter errechnen. Je kleiner dieser Winkel war, um so weiter musste sie entfernt sein!

Point Venus

Bereits im Mai 1768 hat William Wales England in Richtung Hudson Bay verlassen. Er muss seinen Zielort im äußersten Norden Kanadas rechtzeitig erreichen, bevor ein früher Eisgang die Strecke unpassierbar macht. Nach drei Monaten auf See erreicht Wales sein Ziel und überwintert an der eisigen Hudson Bay. (2)

William Wales, Neue Hebriden, Mi. 396
(2) William Wales
Neue Hebriden, Mi. 396

Zu gleicher Zeit verlässt die „Endeavour“ (3) den Londoner Hafen. Ziel ist die eben erst entdeckte Südsee-Insel Tahiti. Noch sind große Teile der Erde völlig unbekannt. Die Weltreise der „Endeavour“ wird viele weiße Flecken auf den Landkarten tilgen. Leiter der Expedition ist der noch unbekannte Seeoffizier James Cook.

James Cook und die „Endeavour“, Samoa, Mi. 222
(3) James Cook und die „Endeavour“
Samoa, Mi. 222

(3) Er wird als einer der berühmtesten Entdecker seiner Zeit in die Geschichte eingehen und mehr für die Erkundung der Welt tun als je ein Mensch zuvor. Zu Ehren seiner Mission nennt er eine Landzunge auf Tahiti „Point Venus“. (4)

Sonderstempel Tahiti: 200 Jahre seit James Cooks Besuch zum Venustransit
(4) Sonderstempel Tahiti:
200 Jahre seit James
Cooks Besuch zum
Venustransit

Rendezvous am Himmel

Auch die Expeditionen, die im Russland Katharinas der Großen nach Osten aufbrechen, müssen in dem riesigen Reich ozeanweite Entfernungen zurücklegen. Unter den Wissenschaftlern, die dem Ruf der Zarin gefolgt sind, ist auch der Göttinger Professor Georg Lawitz. Er macht sich auf den Weg durch die kasachischen Steppen, um am Ufer des Kaspischen Meeres das Rendezvous am Himmel zu beobachten.
Überall in Europa nimmt man großen Anteil am Geschick der Expeditionen. Die Finanzierung der aufwendigen Unternehmungen wird nicht allein von den Fürstenhöfen getragen. Auch reiche Kaufleute fühlen sich als Förderer der wissenschaftlichen Akademien dem Fortschritt verpflichtet. Vorträge zu astronomischen Themen sind bei den bürgerlich gebildeten Ständen so beliebt wie heute ein Kinobesuch. Auf großen Weltkarten ist das Netz der 80 Beobachtungsstationen eingezeichnet, das sich um den ganzen Erdball spannt.
Von einigen der früh gestarteten Forscher hat man schon Nachrichten erhalten. Das Schicksal der anderen wird noch lange ungewiss bleiben. Allzu weit sind sie von Europa entfernt.

Expedition San José

Im Dezember 1768 verlässt ein Schiff den spanischen Hafen Cadiz in Richtung Westen. Geführt wird die französisch-spanische Expedition von einem der erfahrensten Naturforscher und Astronomen Frankreichs.
Der 40-jährige Jean-Baptiste Chappe d’Auteroche ist Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften. Sein größter Schatz an Bord sind die Teleskope. Sie gehören zu den modernsten Instrumenten ihrer Art und besitzen bereits farbkorrigierende Linsen. Das militärische Kommando teilen sich zwei spanische Marineoffiziere: Don Vicente de Doz und Don Salvador de Medina. Beide sind astronomisch geschult und haben vom spanischen König den Auftrag, eigene Messungen durchzuführen. Sie werden Chappe bis zum unvorhersehbaren Ende zur Seite stehen. Alle wissen, dass die Zeit drängt: Bis zum 3. Juni sind es nur noch fünfeinhalb Monate und ihr Ziel liegt in weiter Ferne: im äußersten Westen von Mexiko.

Auf den Spuren von Cortez

Nach 77 Tagen auf See erreicht Anfang März 1769 die französisch- spanische Expedition die mexikanische Küste.
Vor ihnen liegt jetzt eine Reise quer durch ganz Mexiko. 1500 Kilometer von Küste zu Küste. Bis zum Tag der Entscheidung sind es nur noch elf Wochen. Das zentrale Hochland mit den beiden gewaltigen Gebirgsketten der Sierra Madre trennen sie von der Pazifikküste. Und auch dann sind die Wissenschaftler noch lange nicht am Ziel. Sie folgen der gleichen Route, wie einst der Eroberer Cortez, bevor er das Reich der Azteken eroberte.

Gewaltmarsch von 28 Tagen

In der Hauptstadt Mexikos werden die Wissenschaftler im Palast des Vizekönigs empfangen. Obwohl der 3. Juni immer näher rückt, müssen sie die Schönheiten der Stadt besichtigen. Die Männer kämpfen sich nun durch das wild zerklüftete Gelände des Sierra Madre-Gebirges. Sie müssen ihre Waffen griffbereit halten, denn sie durchqueren das Gebiet der gefürchteten „Indio Bravos“. Endlich haben sie den Abstieg geschafft und die sumpfige Ebene am Pazifik erreicht. Es ist ihnen gelungen, Mexiko in einem Gewaltmarsch von 28 Tagen von Küste zu Küste zu durchqueren!

Entscheidung mit tödlichen Folgen

Einen vollen Monat braucht das Postschiff für die Fahrt zur Halbinsel Baja California, weil es ohne Wind wochenlang auf der Stelle dümpelt. Der Segler ankert drei Meilen vor der Flussmündung von San José.
Die gesamte Ausrüstung muss durch die Brandung an die felsige Küste gerudert werden. Doch Chappe will mit der Suche nach einem geschützteren Küstenstrich nicht noch mehr Zeit verlieren. Dass ihn die Entscheidung für San José schließlich das Leben kosten wird, kann er nicht wissen. Das kalifornische San José ist eine Missionsstation des Franziskaner- Ordens. Zwei Wochen bleiben Chappe für die Vorbereitungen. Das provisorische Observatorium soll den Instrumenten während der Beobachtung einen vollkommenen Windschutz bieten. Schon geringste Erschütterungen können zu Verwacklungen des Teleskops führen und so die Messergebnisse ruinieren.

Seuchengefahr in San José

Als Rohbau dient eine Scheune der Missionsstation. An der Südseite haben sie eine Öffnung in das Dach geschnitten. Dumpfe Trommelschläge dringen vom Indianerdorf bis zur Station. Sie erzählen vom großen Sterben. Eine Seuche ist ausgebrochen. Die Spanier wollen San José wegen der Todesgefahr verlassen und zwei Tagesreisen weiterziehen.
Doch Chappe weiß, dass die Zeit nicht reichen würde. Er will lieber sein Leben riskieren als den wissenschaftlichen Erfolg. Sein einziges Interesse gilt dem Aufstellen der Instrumente. Jedes Teleskop trägt einen Verdunkelungsvorsatz aus eingefärbtem Glas zum Schutz gegen die Sonneneinstrahlung.

Exakte Zeitmessung

Chappe hat inzwischen die geographische Breite und Länge von San José bestimmt. Jetzt muss er die lokale Zeit fixieren. Grundmaß der Zeit ist die Umdrehung der Erde. Wenn die Sonne den höchsten Punkt auf ihrem Bogen erreicht hat, zeigt sie zwölf Uhr mittags an. Abweichungen in der Ganggenauigkeit der Uhren lassen sich also nur von Tag zu Tag regulieren. Auch die Uhren sind im 18. Jahrhundert entscheidend verbessert worden. In einer neuen Generation von Zeitmessern wurde das Räderwerk nicht mehr allein durch Gewichte in Bewegung gehalten. Die Uhren tickten zuverlässiger, seit die stählerne Unruh für Federwerkchronometer entwickelt worden war. Die Pendeluhren besaßen jetzt eine Spindelhemmung. Die exakte Zeitmessung wird zum Symbol für den Fortschritt.

Expedition Vardø

Auch in Mitteleuropa erwartet man das Ereignis mit großer Spannung, obwohl hier die Sonne schon bald nach der Begegnung mit der Venus untergehen wird. Wer die Passage ganz erleben will, braucht daher Mäzene, die eine weite Reise bezahlen.
Jesuitenpater Maximilian Hell (5) (6) erhält eine unverhoffte Einladung des dänischen Königs. Als Direktor der Wiener Sternwarte soll er den Venus-Durchgang an der äußersten Nordecke Europas beobachten. Eine monatelange Reise zum norwegischen Vardø, das damals zu Dänemark gehörte. Auch Hell und sein Assistent Johann Sajnovics brechen schon im Frühjahr 1768 auf. Mehr als ein Jahr vor dem Venus-Transit. Sie wollen in Vardø überwintern.

Maximilian Hell in lapländischer Kleidung, FDC Tschechoslowakei Mi. 1923
(5) Maximilian Hell in lapländischer Kleidung
FDC Tschechoslowakei Mi. 1923


Gedenkmünze Maximilian Hell, (1720 - 1792)
(6) Gedenkmünze
Maximilian Hell
(1720 - 1792)

Beschwerliches Unternehmen

Reisen war im 18. Jahrhundert ein beschwerliches Unternehmen. Nach einer Kutschfahrt durch Deutschland und Dänemark beginnt die weite Reise durch Schweden und Norwegen. Je weiter sie nach Norden kommen, umso grandioser wird die Landschaft. Und umso unbefahrbarer werden die Wege. Immer wieder muss die kleine Reisegruppe abgründige Schluchten durchqueren und steile Bergpässe überwinden. Täglich müssen sie gebrochene Räder und verbogene Achsen reparieren. Den fast 50-jährigen Hell bringen solche Strapazen an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Sein Forscherdrang führt ihn durch ein wildes, fast leeres Land.

Gefährlicher Kurs

Pater Hell und Johann Sajnovics nähern sich dem Hafen Trondheim auf dem alten Königsweg. Doch königlich ist nur die Landschaft. Die Kutsche rumpelt über Knüppeldämme, dann über schmale Gebirgspfade. Oft sind sie mit Steinen und Felsbrocken übersät. Auch die hölzernen Brückenkonstruktionen werden immer abenteuerlicher. Erschöpft erreichen sie endlich Trondheim. Im Land der Wikinger chartern sie eine Jacht, die sie über die letzte Etappe tragen soll: den weiten und gefährlichen Kurs übers Nordkap. Mitte Oktober erreicht Hell das Ziel seiner langen Reise: die kleine Garnisonsstation Vardø (7) den entferntesten Vorposten des Dänischen Reiches.

200 Jahre Stadt Vardø - Norwegen, Mi. 1015
(7) 200 Jahre Stadt Vardø -
Norwegen, Mi. 1015

Eisige Temperaturen

Der Herbst auf Vardø ist kurz. Schon im Oktober zieht hier an der Barentssee der Winter ein, und mit der Dunkelheit kommt die Kälte. Die Hauptsorge der beiden Wiener Astronomen gilt ihren Instrumenten, die vor den eisigen Temperaturen geschützt werden müssen. An vielen Geräten sind Wasserwaagen angebracht, um sie beim Messen im Lot zu halten. Damit sie nicht vom Frost gesprengt werden, ersetzen Hell und Sajnovics die Flüssigkeit durch hochprozentigen Alkohol, an dem in der kleinen Garnisonsstadt kein Mangel herrscht. Den Verschluss versiegeln sie, indem sie Wasser darüber gießen und ihn zufrieren lassen.

Mathematische Berechnungen

Knapp 90 Breitengrade liegen zwischen Vardø und der Messstation der Endeavour-Crew um James Cook, Tahiti. Die von Cook und Hell gemessenen Zeiten für die Venus-Passage müssen also deutlich voneinander abweichen. Die Basis aller Berechnungen war der Erddurchmesser, den man kannte. Um die Höhe in dem Dreieck zwischen Venus und Beobachtern zu bestimmen und damit die Distanz zur Venus, brauchte man den Winkel Alpha. Nach der Theorie nahm die Venus für Beobachter im Süden der Erde einen kürzeren Weg über die Sonne als für Beobachter im hohen Norden. (8)

Venus-Durchgang 1769
(8) Venus-Durchgang 1769: Weg der
Venusscheibe (Scheibenmittelpunkt) über die
Sonnenscheibe von zwei verschiedenen
Standorten (Vardø und Tahiti) aus gesehen.

Gesetze und Verfahren

Aus dem Unterschied der gemessenen Zeiten ließ sich das Verhältnis der scheinbaren Venus-Strecken auf dem Sonnenrund berechnen – und damit die sogenannte „Parallaxe“. Diese war nichts anderes als der Winkel Alpha, und mit ihm kannte man auch die Entfernung zur Venus. Das mathematische Verfahren wurde allerdings durch Faktoren wie die Beugung der Lichtstrahlen und die Eigenrotation der Erde kompliziert. Doch hatten die Mathematiker einmal die Distanz zur Venus bestimmt, konnten sie nach dem Gesetz der Planetenbewegung auch alle anderen Entfernungen im Sonnensystem berechnen – und so auch den Abstand zwischen Erde und Sonne in absoluten Zahlen angeben. (9)

die Venus genau zwischen Sonne und Erde
(9) Wenn sich die Venus genau zwischen Sonne und Erde befindet
(a), zieht sie für Beobachter in verschiedenen geografischen Breiten X
und Y verschiedene Bahnen X-X1 und Y-Y1 über die Sonnenscheibe
(b). Durch die Bestimmung der Ein- und Austrittszeiten der Venus
erhält man die genaue Länge der beiden Bahnen; daraus lässt sich ihr
Winkelabstand bestimmen und die Entfernung der Sonne auf
geometrische Weise errechnen

Im Bann der Venus

überall auf der Welt blicken die Astronomen gespannt in den Himmel: Wird sich die Sonne zeigen? Oder werden dichte Wolken sie verdecken, so dass alle Mühen vergeblich waren? Sie warten in den finnischen Wäldern und in der sibirischen Tundra, in Quebec und Peking, in der Karibik, in Indien und an einem halben Hundert Orten in Europa.

Mit Gottes besonderer Gnade

In Vardø, wo die Junisonne nicht untergeht, schreibt Hells Begleiter Sajnovics über das Wechselbad der Gefühle: „Obschon gestern Abend der ganze Himmel überzogen war, so zerteilten sich doch gegen Morgen die Wolken. Bis man gegen drei Uhr die Sonne deutlich sehen konnte. Dann aber wurde es wieder trübe. Nach neun Uhr am Abend richteten wir unsere Fernrohre auf die Sonne, die manchmal durch die Wolken hervorblickte. Endlich wurde gerade, als sie an einer solchen Stelle war, der Eintritt der Venus mit Gottes besonderer Gnade beobachtet.“

Aus dem Nichts in den Sonnenrand

Im kalifornischen San José zielt das Teleskop wie ein Kanonenrohr in den Himmel. Chappe, Doz und Medina warten seit dem frühen Morgen auf das Auftauchen der Venus (10). Die Sonne brennt fast senkrecht vom Himmel, und in der Scheune herrschen Temperaturen wie in einem Backofen. Nur ein leichter Südostwind weht, als genau um 12 Uhr mittags die Venus aus dem Nichts auftaucht und in den östlichen Sonnenrand eindringt. Während der Uhrmacher Dubois laut die Sekunden zählt, skizziert der astronomische Assistent Pauly die Phasen des Durchgangs mit den einzelnen Positionen der Venus. 6 Stunden und 13 Minuten braucht die Venus, um das Sonnenrund zu durchqueren und wieder in die Unsichtbarkeit zu entschwinden.

Planet Venus – Ciskei, Mi. 204
(10) Planet Venus – Ciskei, Mi. 204

Opfer der Strapazen

Bei James Cook auf Tahiti (11) (12) (13) (14), zeigt die Uhr im Moment des Eintritts erst Viertel vor zehn am Morgen. Cook und sein Astronom Charles Green können bei klarem Himmel das Ereignis von Anfang bis Ende beobachten. Charles Green wird die Strapazen der Rückfahrt nicht überleben. Und zwei Jahre wird es dauern, bis Cook die Ergebnisse der Observation zurück nach London bringt.

Cook und der Venustransit, Norfolk-Inseln, Mi. 101
(11) Cook und der Venustransit – Norfolk-Inseln, Mi. 101


Die Außenposten im hohen Norden haben ähnlich gute Resultate, obwohl William Wales an der Hudson Bay beim Wiedereintritt der Venus aus der Sonnenscheibe durch aufsteigende Nebelschwaden irritiert wird. In Vardø notiert Maximilian Hell so präzise Zahlen, dass ihm der Ruhm des besten Beobachters gebühren müsste. Aber er wartet ein volles Jahr bis zur Veröffentlichung! So gerät er in den Verdacht, seine Messungen nachträglich verbessert zu haben. Doch als Jesuit war er nur besonders gewissenhaft.
Georg Lowitz aus Göttingen, den Katharina II. die Große an das Kaspische Meer geschickt hat, kehrt nie mehr nach St. Petersburg zurück. Als Landvermesser der Zarin wird er von aufständischen Kosaken gefangen genommen und auf grausame Weise hingerichtet.

Venus vor der Sonnenscheibe – Neuseeland, Mi. 510
(12) Venus vor der Sonnenscheibe – Neuseeland, Mi. 510


Beobachtung des Durchgangs, Tuvalu, Mi 103
(13) Beobachtung des Durchgangs – Tuvalu, Mi 103


transportables Observatorium, St. Helena, Mi 314
(14) Zur Beobachtung
wurde auch ein
transportables
Observatorium mitgeführt –
St. Helena, Mi 314

Vorhof zur Hölle

San José ist ein Vorhof zur Hölle geworden. Chappes Expeditionszeichner, der 18-jährige Alexis Noel, hat das Elend in seinem Skizzenbuch festgehalten. Jean Baptiste Chappe macht weitere astronomische Messungen und hilft zugleich den infizierten Kameraden, ein letztes Aufbäumen seiner ungewöhnlichen Vitalität. Dann wirft es auch ihn aufs Krankenlager. Die Epidemie, in der man heute Typhus vermutet, hat fast alle Reisegefährten angesteckt. Nach Chappe stirbt auch Salvador de Medina. Von den 28 Männern, die in Cadiz gestartet waren, werden 19 in fremder Erde bestattet. Indianer tragen die Toten aus Europa zu Grabe.

Das große Rechnen beginnt

Nach und nach treffen die Berichte der Expeditionen in Paris, London und St. Petersburg ein: Das große Rechnen beginnt. Die besten Mathematiker Europas beteiligen sich. Dennoch dauert es Jahre, bis aus den Zeitangaben der Beobachter der Winkel zur Sonne bestimmt werden kann. In den akademischen Zirkeln bleibt das Interesse ungebrochen. Die gebildeten Stände lassen sich „den Spaziergang der Venus über die Sonnenscheibe“ immer wieder erklären. Mit Bildern einer „Laterna Magica“. Schließlich veröffentlicht die Pariser Sternwarte das Ergebnis. Man hat sich auf einen Wert geeinigt, der dem richtigen, wie wir heute wissen, sehr nahe kommt: Rund 150 Millionen Kilometer ist die Erde von der Sonne entfernt! Damit ist das „Urmeter“ für die Räume des Himmels gefunden. Ein erster Schritt auf dem Weg in die Welt der Sterne getan! Vor allem aber haben Europas Wissenschaftler bewiesen, zu welch großen Leistungen Menschen fähig sind, wenn sie über die Grenzen der Nationen hinweg zusammenarbeiten.


152 300 000

Mittlere Entfernung Erde–Sonne in km
nach Auswertung der Ergebnisse der
Expeditionsmessungen.

149 597 870

Mittlere Entfernung Erde - Sonne in km,
1976 festgelegt von der Internationalen
Astronomischen Union. Diese astronomische
Konstante wird als eine „Astronomische
Einheit“ (AE) bezeichnet.

147,1     152,1

Geringste (Perihel) und größte Entfernung
(Aphel) von Erde und Sonne in Mio. km.


Planeten vor der Sonne

Bisher war nur von Venusdurchgängen die Rede. Aber auch der Planet Merkur wandert vor der Sonnenscheibe vorbei. In einem Jahrhundert finden durchschnittlich 13 Merkurdurchgänge statt. Sie folgen aufeinander in einem zeitlichen Abstand von wenigstens drei und höchstens dreizehn Jahren.

Johannes Kepler – DDR, Mi. 1649
(15) Johannes Kepler – DDR, Mi. 1649

Als erster hat Kepler (15) auf Planetendurchgänge hingewiesen und 1627 aufgrund der von ihm erstellten Rudolfinischen Tafeln den Durchgang vom 7.November 1631 angekündigt. Er selbst erlebte dieses Ereignis zwar nicht mehr, doch wurde es dank seiner Voraussage von Pierre Gassendi in Paris beobachtet. Im ersten Jahrhundert der Fernrohrbeobachtung wurde der Merkurdurchgang vom 3. Mai 1661 wichtig durch die sorgfältige Beobachtung, die er durch Hevelius (16) in Danzig erfuhr.

Johannes Hevelius – Polen, Mi. 3117
(16) Johannes Hevelius – Polen, Mi. 3117


Sir Edmund Halley – Belize, Mi. 878
(17) Sir Edmund Halley – Belize, Mi. 878

Der Durchgang des Jahres 1677 ist für die Geschichte der Astronomie bedeutungsvoll geworden, weil er Halley (17) dazu führte, die Methode der Bestimmung der Sonnenparallaxe aus Venusdurchgängen zu finden. Halley hat den Merkurtransit von der Insel St. Helena aus beobachtet.
Im 20. Jahrhundert ereigneten sich 14 Merkurdurchgänge. Auf den zwölften davon verweist ein Sonderstempel. (18)

Der Sonderstempel verweist auf den Merkurdurchgang am 13.11.1986 – Rumänien, Mi. 3795
(18) Planet Merkur auf seiner Bahn um die Sonne.
Der Sonderstempel verweist auf den Merkurdurchgang am 13.11.1986
– Rumänien, Mi. 3795

Wieder zurück zur Venus

Durchgänge der Venus sind sehr viel seltener als Merkurdurchgänge. Im Laufe eines Jahrtausends ereignen sich nur 16 Durchgänge der Venus. Sie wiederholen sich jeweils nach 243 Jahren mit Abständen von 8, 105 1/2, 8 und 121 1/2 Jahren. Ein einmaliges Kuriosum ist der Durchgang des Jahres 1631, weil er innerhalb von nur einem Monat auf einen Merkurdurchgang folgte, was wohl nur äußerst selten vorkommen dürfte. Kepler sagte die Venusdurchgänge von 1631 und 1761 voraus, derjenige des Jahres 1639 war ihm entgangen.

Der Schwarze Tropfen

Die Beobachter des Jahres 1761 wurden durch das Phänomen des „Schwarzen Tropfens“ sehr überrascht. Es ist dies ein physiologischer Effekt der darin besteht, dass sich das nach dem Eintritt in die Sonnenscheibe schwarz erscheinende Planetenscheibchen zunächst nicht vollständig vom Sonnenrand ablöst, sondern dass sich für eine kurze Zeit zwischen Planetenscheibchen und Sonnenrand eine schwarze, tropfenförmige Erscheinung ausbildet (19). Reißt dann der Tropfen ab, so steht der Planet schon ein merkliches Stück innerhalb der Sonnenscheibe. Ein entsprechendes Phänomen zeigt sich umgekehrt auch während der Phase des Austritts.

Phänomen des „Schwarzen Tropfens“
(19) Phänomen des „Schwarzen Tropfens“

Francis Baily, englischer Amateurastronom beschrieb das nach ihm benannte Perlschnurphänomen (Bailysche Perlen) bei totalen Sonnenfinsternissen und den Schwarzen Tropfen, den man auch „Bailyschen Tropfen“ nennt.

Ein Krieg verhindert die Beobachtung

Besonders tragisch muss uns das Schicksal des französischen Astronomen Le Gentil berühren, der 1761 nach Pondichéry in Vorderindien gesandt worden, aber wegen des französisch-englischen Krieges zu spät eingetroffen war. Unentmutigt durch sein Missgeschick, entschloss er sich kurzerhand, volle acht Jahre bis zum nächsten Venusdurchgang in Pondichéry auszuhalten. Und als am 3. Juni 1769 die Venus sich eben anschickte, in die Sonnenscheibe einzutreten, hüllte sich die Sonne in Wolken und betrog den Bedauernswerten um die Hoffnungen eines achtjährigen freiwilligen Exils.
Trotzdem fielen die Ergebnisse von 1769 günstiger und übereinstimmender aus als die von 1761, so dass der Berliner Astronom Encke (20) im Jahre 1824 als definitives Resultat für die Sonnenentfernung den Wert von 153 Millionen Kilometer ableiten konnte.

Johann Franz Encke – Komoren, Mi. 774
(20) Johann Franz Encke – Komoren, Mi. 774

Fortschritte durch technische Hilfsmittel

Die Expeditionen zu den Durchgängen des 18. Jahrhunderts erbrachten ein umfangreiches Beobachtungsmaterial. Das gleiche gilt für diejenigen der Jahre 1874 und 1882. Am 8. Dezember 1874 waren 50 Expeditionen (21) an Ort und Stelle, darunter sechs aus Deutschland. (22)

Venus-Transits von 1874 – Frz. Gebiete in der Antarktis, Mi. 450
(21) Auf der winzigen Insel St. Paul im
Südpolarmeer erinnert ein Gedenkstein
an die französische Expedition zur
Beobachtung des Venus-Transits von
1874 – Frz. Gebiete in der Antarktis, Mi. 450


Prägesiegelvignette der „Commission für die Beobachtung des Venus-Durchgangs“ von 1874
(22) Prägesiegelvignette der „Commission für die
Beobachtung des Venus-Durchgangs“ von 1874


Cachet des Transits von 1882 auf einem Brief aus der Sammlung von M. I. Morris
(23) Cachet des Transits von 1882 auf einem Brief aus der Sammlung von M. I. Morris

Für den Durchgang am 6. Dezember 1882 wurden überall mit gewohnter Energie, besonders auch in Nordamerika (23), die umfassendsten Vorbereitungen getroffen und ebenso viele Expeditionen wie 1874 nach Süd- und Nordamerika entsandt, wo die Sichtbarkeitsverhältnisse am günstigsten waren. Die an vier Stationen aufgestellten Deutschen arbeiteten vorwiegend mit Heliometern, während die Amerikaner die photographische Methode bevorzugten. Aber auch die so kostspieligen und mühsamen Venus-Expeditionen des 19. Jahrhunderts führten zu keinem allseits befriedigenden Ergebnis.

Blick in die Zukunft

Zwischenzeitlich erlaubt es uns die Radar-Astronomie, die Entfernung von der Erde zur Sonne nahezu auf den Kilometer genau zu bestimmen. Doch nach der Zwangspause von 105 1/2 Jahren werden viele „Astronomische Augen“ sehnsüchtig auf den 8. Juni 2004 und den 6. Juni 2012 warten. Und vielerorts werden die Beobachter von diesem seltenen Himmelsschauspiel schwärmen und vielleicht vom „Schwarzen Tropfen“ fasziniert sein. Jedenfalls halte ich Ihnen schon mal beide Daumen und wünsche viel Glück! Ihr Reinhart Sitter

Schlusswort

Zum Verfassen des vorstehenden Artikels wurde ich durch eine Reportage im Fernsehen inspiriert und verwendete dazu hauptsächlich folgende Literatur:

1) Teile des Manuskripts der ZDF-Sendung vom 16.4. 2001/ 19.30 h ZDF-Expedition, „Wettlauf zur Venus“
2) Lexikon der Astronomie – Verlag Herder 1988, Band 1 und 2
3) Planeten – Geschwister der Erde – Werner Sandner, Verlag Chemie 1971
4) Himmel und Erde – Band 1 – Verlag der Leo-Gesellschaft Wien, ca. 1910
5) Astronomisches Lexikon – Hartlebensverlag Leipzig, ca. 1905
6) diverse Artikel aus Mitteilungsblättern der Arbeitsgemeinschaft Astronomie & Philatelie und Astrofax