Wofür kriegt man eigentlich den Literaturnobelpreis? Für Verdienste
um den Zeitgeist oder für unsterbliche Literatur? Am Donnerstag wurde in Stockholm
die Wahl bekannt gegeben, sie fiel auf die britische Autorin Doris Lessing.
DLF-Literaturkritiker Denis Scheck ist nicht ganz zufrieden. An ihren Ideen
gemessen sei Lessing zwar ihrer Zeit immer voraus gewesen. Auf
literaturästhetischer Seite gebe es jedoch Defizite, so Scheck.
Beatrix Novy: Einigkeit kann es nicht geben. In
der Literaturkritikerszene sind die Positionen erwartungsgemäß verteilt. Elke
Heidenreich ist begeistert, Marcel Reich-Ranicki ist es überhaupt nicht. Nein,
hat er gesagt, Doris Lessing hat kein bedeutendes Werk geschrieben, kein
einziges, sondern nur brave, sozialkritische Bücher. Mein Kollege Denis Scheck
ist von der Buchmesse zugeschaltet. Wem stimmen Sie denn zu, Herr Scheck?
Denis Scheck: Na ja, also da muss ich sagen, da bin
ich dann offenbar der Dritte im Bunde in dessen Brust zwei Seelen schlagen. Sie
hat, glaube ich, schon literarisch, ästhetisch bedeutende Werke geschrieben,
aber natürlich nicht kontinuierlich. Sie hat enorme Qualitätsschwankungen in
ihrem wahnsinnig umfangreichen Werk. Es gibt Bücher - "Das goldene
Notizbuch", 1961 im Original veröffentlicht, erst 1978 auf Deutsch, das
literarisch wirklich sehr avanciert ist - da kann man ihr keinen Vorwurf
machen, dass sie da zu wenig gemacht hätte in dem Bereich. Es gibt "Die
Memoiren einer Überlebenden". Das finde ich immer noch einen sehr
beeindruckenden Roman. Und es gibt die großen Science-Fiction-Romane. Das
Problem an Doris Lessing ist, sie ist eine Frau der Ideen. Sie ist sozusagen
die "Grand Old Literaturschachtel" schlechthin. Aber dass ein Roman
eben auch eine Kunstform sein könnte, das hat sie irgendwann zwischendurch mal
vergessen. Spätestens in ihrem Alterswerk, ich denke an jetzt den letzten Roman
"Die Kluft", da sind wir nur noch bei Ideen. Da geht es um den
Ursprung der Menschheit. Ein römischer Senator möchte den erforschen, stößt auf
ein Urgeschlecht, bestehend nur aus Frauen, dass Männer als Missbildungen
zunächst tötet und dann mal spaßeshalber einen aufwachsen lässt. Das sind
Vergnügungen, Literaturjuxe kann man sagen. Aber ich kann dieser Entscheidung
eigentlich nicht so recht böse sein in diesem Jahr, weil man jemanden
ausgezeichnet hat, der eine große Geradlinigkeit hat und der sich nie
vereinnahmen lassen wollte. Und das ist doch auch mal eine Kategorie. Wir haben
so viel Unfug aus Stockholm zu hören bekommen. Ich denke an Dario Fo, ich denke
an Harold Pinter. Dagegen nimmt sich Doris Lessing eigentlich als ganz
respektable Entscheidung heraus.
Novy: Sie ist also mit ihrem letzten Buch wieder dahin
zurückgekehrt, wo sie inhaltlich mit dem goldenen Notizbuch war. Denn
zwischendurch, sie haben es ja gesagt, hat sie auch völlig andere Romane
geschrieben. Sie hat "Das fünfte Kind" geschrieben, dann diese
Science-Fiction-Bücher, von denen Sie sprachen. Alles Bücher, die ja irgendwie
einen schweren Gesellschaftspessimismus in sich tragen. Auch "Das fünfte
Kind" ist ja so eine Fantasie des Zerfalls von menschlicher Organisation
und Kultur. War das Ihr Thema?
Scheck: Das ist eines Ihrer Themen. Doris Lessing
gilt in der Branche als Dame, die sich schwer interviewen lässt, und zwar aus
einem bestimmten Grund: Weil sie sich ungern festlegen lässt auf irgendwelche
Positionen, die sie mal vor Jahren oder Jahrzehnten irgendeiner Figur in den
Mund gelegt hat. Sie ist der Inbegriff des Autors, dessen Denken auch mal die
Richtung wechseln kann. Das macht sie mir sehr sympathisch. Sie hat eben
mitbegründet - kann man sagen - den Feminismus der 50er-, 60er-Jahre, aber Sie
hat sich nie davon vereinnahmen lassen. Sie hat eine Abkehr durchlaufen vom
Kommunismus, aber sie wurde eben auch nicht Arthur Koestler-mäßig eine
Sprecherin der großen kommunistischen Desillusionierten. Sie hat einen Kampf
geführt ihr Leben lang gegen den Rassismus, den sie in Rhodesien natürlich erlebt
hat. Aber sie wurde auch da nicht zu einer Galionsfigur, sondern Doris Lessing
sprach immer nur für eine Person namens Doris Lessing und sonst für gar
niemanden. Das halte ich für eine Schriftstellerposition eigentlich gar nicht
so übel.
Novy: Könnte man dann aber nicht auch sagen, sie
sprach mit dem Zeitgeist? Denn es widerspricht sich ja ein bisschen. Sie haben
gesagt, sie ist eine Frau der Ideen und nicht einer Idee. Das ist natürlich in
Ordnung, gerade in so einem langen Leben, aber dann ist es eben immer die Idee,
die gerade das Jahrzehnt bestimmt vielleicht.
Scheck: Das Widerspricht sich überhaupt nicht. Denn
wenn Sie die Veröffentlichungsdaten der Bücher von Doris Lessing verfolgen,
dann ist sie diesem Zeitgeist in der Regel zehn Jahre voraus. Sie ist eben
nicht die Getriebene des Zeitgeistes gewesen in ihrem Leben, soweit ich das
verfolgen konnte, sondern sie hat den Zeitgeist geschaffen. Und das ist ja das,
was wir von einem Autor wollen. Nur wäre es mir als Literaturkritiker eben
viel, viel lieber, wenn Sie dann auch noch so wie jemand, der das auch getan
hat, wie Kafka, die Möglichkeit gehabt hätte, das in ästhetisch
befriedigenderer Form zu tun, als die Romane der letzten zwei Jahrzehnte. Auf
diese Formel würde ich es mal bringen.
Novy: Dank an Denis Scheck für seine Würdigung der
neuen Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing.