Genauigkeit des Schattens bei Sonnenuhren

Von Hans Keller, der Aufsatz erschien in ORION 2/1997, Heft 279, Seite 13-14

Einleitung

Bei Teleskopen gilt die einfache Regel "Je größer, desto genauer". Für Sonnenuhren liegt der gleiche Schluss nahe, doch er trifft nicht zu für den Schattenwurf.

Der Anlass für meine Nachforschungen gab der Besuch der historischen Beobachtungsstation von Dengfeng (50 km östlich von Luoyang) in China anlässlich einer Astronomie-Studienreise (1) im Sommer 1996. Sachkundiger Begleiter war Herr Bian Depei, Verleger der chinesischen Zeitschrift "Astronomie Amateur". Er gab uns wichtige Hinweise und öffnete uns viele Türen.

In Dengfeng standen wir vor einer Serie von Gnomonen (Mittags-Sonnenuhren) wachsender Größe. Der chinesische Führer versuchte uns zu erklären, wie die hohe Genauigkeit zustande kam, doch mit der Übersetzung klappte es nicht, wir redeten aneinander vorbei. In der anschließenden Diskussion unter den Teilnehmern gerieten wir uns bildlich in die Haare: Einer behauptete, die Sonnenstrahlen seien quasi parallel, der Schatten also haarscharf. Demgegenüber stand die Behauptung, der Schatten eines Haares verschwimme mit zunehmender Distanz.

Gnomone in China

Eine Hauptaufgabe der Astronomen war die Kalenderberechnung, welche aus dem Sonnenstand abgeleitet wurde. Dazu benutzten sie Gnomone (Schattenstäbe). Sie bestehen aus einem senkrechten Stab und an deren Fuß eine horizontale Skala in exakt nördlicher Richtung. Damit wurde vor allem die Mittagssonnenhöhe und damit die Tages- und Jahreslänge bestimmt.

Für die exakte Bestimmung der Nord-Süd-Richtung benutzten die Chinesen die Symmetrie des Verlaufs des Schattens einer Stabspitze im Laufe eines Tages (Fig. 1). Der Schatten der Stabspitze schneidet die konzentrischen Kreise in zwei Punkten, die symmetrisch zur Nord-Süd-Richtung liegen.

Wenn der Schatten des Gnomons auf die Süd-Nord-Skala fällt, ist dies der Moment des wahren Mittags. Auf der Skala lässt sich die Länge des Mittagsschattens ablesen. Dieser ist im Sommer (21. Juni) am kürzesten, im Winter (22. Dezember) am längsten. Aus der Länge des Mittagsschattens lässt sich also das Datum ablesen. Weiter ergeben sich die Länge eines Jahres und die Schiefe der Ekliptik.

Der Schatten eines Stabes

Die Schattenwerfer in China sind Säulen mit rechteckigem Querschnitt. Der Schatten wird durch die hintere Kante des abschließenden Rechtecks bestimmt. Diese Kante wird aber nicht scharf abgebildet, weil die Sonne einen scheinbaren Durchmesser von rund 0,5° hat (Fig. 2).

Gehen wir von einer mittleren Sonnenhöhe von 45° aus, so ist der Schatten theoretisch gleich lang wie der Gnomon hoch ist. Mit einem Sonnendurchmesser von 0,5° ergibt sich ein Halbschattenbereich, der +- 1,7% von der theoretischen Länge abweicht. Bei einer Stabhöhe von 2 m wird der Halbschattenbereich rund 7 cm lang. Also schlecht brauchbar für eine präzise Ablesung!

Dies war für die damaligen Beobachter auch offensichtlich. Ein erster Versuch besteht darin, den Schattenstab mit einer Spitze zu versehen. Doch das verschlimmert die Situation nur noch. Die Spitze erzeugt nur noch Halbschatten, die Länge des Schattenstabs und des Schattens wird dadurch noch unbestimmter. Das lässt sich, wie in der Einleitung erwähnt, mit einem Haar experimentell leicht nachvollziehen, sobald die Sonne scheint. Man legt das Haar auf ein Papier, hebt es langsam an und beobachtet dabei, wie der Schatten immer unschärfer wird, bis er nicht mehr wahrnehmbar ist. Im größeren Maßstab kann man das auch am Schatten von hängenden Stromleitungen feststellen.

Eine Lochblende als Schattenwerfer

Ein anderer Ansatz zur besseren Lokalisierung des Sonnenschattens findet sich in Europa etwa im 10. Jahrhundert (2), in China etwa um die gleiche Zeit. Der Gnomon von Nanking von 1439 zeigt eine Version (Fig. 3). An der Spitze des Gnomons wird ein Loch gebohrt, durch das das Sonnenlicht fällt.

Damit das Licht bei verschiedener Deklination durch das Loch fallen kann und der Strahl auch kurz vor und nach Mittag beobachtet werden kann, ist das Loch im Stab gegen die Sonne hin konisch ausgeweitet. Die sonnenabgewandte Öffnung wird möglichst klein gehalten.

Im ersten Ansatz denkt man, der Schatten, beziehungsweise der Lichtfleck, sei gleich gross wie das Loch, also präzise ablesbar. Doch auch hier spielt die scheinbare Sonnengröße eine Rolle. Die Sonne bildet sich durch das Loch auf den Boden ab, ihr scheinbarer Durchmesser bleibt 0,5°. Der Lichtfleck hat also auch diesen Durchmesser, das ist knapp ein Prozent der Distanz vom Loch zum Lichtfleck.

Wieder am Beispiel der Sonnenhöhe von 45° und der Stabhöhe 2 m ergibt dies auf dem Boden einen Lichtfleck, der etwa 2,5 cm breit und 3,5 cm lang ist. Immerhin lässt sich dessen Zentrum gut schätzen. Man erreicht so eine Genauigkeit von etwa einem halben Zentimeter. Andererseits verändern sich die Schattenlänge um den kürzesten Tag herum nur etwa um 0,2 cm pro Tag. Somit reicht die Genauigkeit des Lichtflecks nur knapp für eine exakte Bestimmung des kürzesten Tages.

Die Methode des Guo Shou Jing

Guo Shou Jing (1228 - 1316) war Astronom und Hydrologe unter dem Mongolenkaiser Khubilai. Er konstruierte verschiedene astronomische Beobachtungsgeräte (Armillarsphären, Sternglobus, Wasseruhr ...), zum Teil basierend auf chinesischer Tradition aus der Han-Zeit (206 vor bis 220 nach Chr.), zum andern Teil nach Plänen arabischer Astronomen, welche am Mongolenhof tätig waren (3). Er errichtete um 1276 einen Gnomon von rund 10 m Höhe in Form eines Turms mit Beobachtungsplattform (Fig. 6).

Doch schon vor der Errichtung dieses Turms hatte er die Schattenablesung grundsätzlich verbessert. Zur genauen Zeit- und Kalenderberechnung ließ er im ganzen Land an 27 Orten Gnomone errichten. Einer davon steht heute noch in Dengfeng (Fig. 4).

Hier befindet sich zuoberst ein horizontaler Stab von knapp 2 cm Durchmesser. Sein Schatten wurde mit Hilfe eines Lochs in einer Kupferplatte auf die Skala abgebildet (Fig. 5).

Wenn es gegen Mittag ging, wurde diese Lochblende senkrecht zur Sonnenrichtung in den Schattenstrahl des Querstabes gestellt. Durch das Loch wurde dieser Stab abgebildet, was man ohne Abdeckung, wie sie früher Fotografen benutzten, nicht beobachten kann. Da aber gleichzeitig auch die Sonne abgebildet wird, findet man den genauen Ort des Stabschattens, wenn man die Bilder von Stab und Sonne durch Schieben der Lochblende zur Deckung bringt. Das heißt, man schiebt sie vor- und rückwärts, bis man auf der horizontalen Skala vor dem Bild der Sonne einen Querstrich, das Bild des Stabes, sieht. Dieser Strich markiert dann die exakte Schattenlänge, wenn er das Sonnenbild halbiert. Die Lochblende verkleinert den Stab etwa 25 mal, also wird sein Bild weniger als ein Millimeter dick, das Bild der Sonne etwa 2 mm.

Nun war es angebracht, mit dieser Methode noch größere Gnomone zu bauen. Im Turm befindet sich auf rund 10 m Höhe ein Querstab von knapp 10 cm Durchmesser (im mittleren Fenster). Nördlich am Fuß des Turms befindet sich eine Marmorskala, welche durch eine umlaufende Wasserrinne horizontal ausgerichtet wurde (Fig. 6).

Mit diesem Instrument gelang es Guo Shou Jing, die Länge des (tropischen) Jahres mit 365.2425 Tagen zu bestimmen. Das sind nur 0.0003 Tage oder 26 Sekunden zuviel! Zu seiner Zeit galt in Europa noch der julianische Kalender mit 365.25 Tagen pro Jahr. Erst Ende des 16. Jahrhunderts bestimmte Tycho Brahe die Länge des Jahres auf eine Sekunde genau (4).

Interessant ist, dass alle Skalen regelmäßig eingeteilt sind. Es finden sich keine Markierungen für astronomisch markante Daten wie höchster und tiefster Sonnenstand oder Tag- und Nachtgleiche. Die damaligen Astronomen verfügten also schon über die entsprechende Mathematik (Trigonometrie), um aus der Schattenlänge die entsprechenden Winkel zu berechnen.

Eine weitere Behauptung der chinesischen Führer konnten wir nicht nachvollziehen. Die Skala am Boden ist viel länger, als für den längsten Schatten am kürzesten Tag nötig. Warum?

Guo Shou Jing soll mit diesem Instrument auch Sternhöhen vermessen haben. Dazu habe er die gleiche Vorrichtung (Lochblende) benutzt. Mir scheint das Sternlicht aber zu schwach, um ein sichtbares Bild hinter der Lochblende zu ergeben. Wenn er umgekehrt durch die Lochblende visiert hat, bis sich Querstab und Stern decken, so hat er die Position der Lochblende, aber nicht des "Schattens" auf der Skala. Natürlich lässt sich das berechnen, vielleicht wurde es so auch gemacht.

Nachdem wir die Methode von Guo Shou Jing verstanden hatten, betrachteten wir seine weiteren Werke, die Armillarsphären in Nanking, mit noch größerem Respekt vor seiner Präzisionsarbeit. Leider gingen seine Erkenntnisse in den folgenden Jahren fast unter und wurden erst im 17. Jahrhundert durch Jesuitenpatres, welche auch als Astronomen am Kaiserhof tätig waren, wieder aufgenommen.

(1) Reise von Kultur-Astronomie & Wissenschaftsreisen nach China und Hongkong vom 20.7. bis 10.8.1996
(2) R. Rohr: Die Sonnenuhr, München 1982, S. 13
(3) J. Needham, L. Wang: Science and Civilisation in China, Cambridge 1959, S. 296
(4) H. W. Gaebert: Die großen Augenblicke der Astronomie, Bayreuth 1972, S. 105